Franz E. Weinert, der Schöpfer des zeitgenössischen (und häufig falsch rezipierten) Kompetenzbegriffs wies auf den Erwerb lernmethodischer Kompetenz als eines der wesentlichen Ziele von Schulbildung hin. Gleichzeitig bemerkte er, dass das Aussprechen von Schlagworten wie "Lernen lernen" zwar sehr leicht über die Lippen gehe, sich die konkrete Umsetzung in der Unterrichtspraxis aber ausgesprochen schwer gestalte. (Weinert, zit. n. Helmke 2015, S. 43)

Die Situation hat sich aus meiner Sicht bis heute noch nicht wesentlich verbessert: Einige Schulen bieten zwar sogar eigene Unterrichtsfächer mit dem Namen "Lernen lernen" an, wenn man sich aber die Konzepte ansieht, wird dort z.T. hanebüchener Unsinn verzapft, der dazu führen kann, dass die Schülerinnen und Schüler im Anschluss sogar schlechter lernen als vorher. Dazu gibt es auch ein kurzes und prägnantes Video bei maiLab: youtube

Da es für die Fächer Mathematik und Physik auch weiterhin kein systematisch unterstützendes Unterrichtsmaterial gibt, liste ich hier einige allgemeine sowie einige fachbezogene Möglichkeiten auf, deren Nützlichkeit sich auch tatsächlich belegen lassen.
Überfachlich werden diese Strategien auch in folgenden youtube-Videos erklärt: 7 Evidence-Based Study Strategies  How to study for exams - Evidence-based revision tips 

 

  • Verständnisorientiert lernen

    Lernen wird, zumindest wenn man sich an den unter Lehrkräften grassierenden Fehlvorstellungen zu ihrem Kerngeschäft orientiert, viel zu häufig als bloßes Auswendiglernen zum Zweck der Reproduktion verstanden (Looß 2015, S. 10). Eine solche Auffassung steht in direktem Gegensatz zu zentralen Zielen von Schulbildung: Mündige Bürger benötigen nicht nur für ihren eigenen beruflichen Erfolg, sondern auch und vor allem für die Teilnahme an demokratischen Prozessen gut vernetztes und flexibel einsetzbares Wissen, damit sie informierte Entscheidungen treffen und sich fundierte Meinungen bilden können.
    Wenn man die oben genannte Fehlvorstellung vertritt, dann kann man natürlich leicht zu dem populären Irrtum gelangen, dass Lehrpläne immer weiter "entrümpelt" werden müssten. Selbstverständlich kann sich kein Mensch ohne ein absolut außergewöhnliches Gedächtnis - also fast niemand! - alles unverstanden merken, was in der Schule gelernt werden soll. Durch verständnisorientiertes, vernetzendes und Fachgrenzen überschreitendes Lernen lassen sich Lerninhalte aber mit Bekanntem verknüpfen und viel leichter nachhaltig erwerben. Nebenbei werden auf diese Weise auch Fähigkeiten und Fertigkeiten automatisiert, ohne die man gerade im Fach Mathematik nicht auskommt.

    Kurzgefasst: Anstatt etwas bloß auswendig zu lernen, sollte man darauf achten, das Gelernte auch mit eigenen Worten wiedergeben und anhand von Beispielen erläutern zu können. Außerdem sollte man immer im Blick haben, inwiefern neue Inhalte mit bereits bekannten zusammenhängen.

    Einfache Beispiele: 
    • Anstatt das Potenzgesetz
      \[a^m \cdot a^n = a^{m+n}\]
      einfach auswendig zu lernen, könnte man sich selbst erklären, dass beim Berechnen von
      \[2^3\cdot 2^5\]
      der Faktor 2 insgesamt 3+5=8 mal vorkommt: Das Ergebnis muss also
      \[2^{3+5}=2^8\]
      sein.
    • Viele Rechenregeln lassen sich auch grafisch erläutern: Anstatt einfach die binomische Formel
      \[(a+b)^2=a^2+2ab+b^2 \]
      nur auswendig zu lernen, ist es viel hilfreicher, sich dazu ein "Flächenbild" einzuprägen. Die linke Seite der Formel gehört zu einem Quadrat mit Seitenlänge a+b. Dieses lässt sich in zwei Quadrate mit Flächeninhalten a², b² und zwei Rechtecke mit Flächeninhalt ab unterteilen.
    • Das notwendige und die hinreichenden Kriterien für die Existenz innerer Extremstellen einer differenzierbaren Funktion hat man erst verstanden, wenn man sie begründen und ihre Grenzen aufzeigen kann. Warum ist z.B. das Vorzeichenwechselkriterium für die erste Ableitung mächtiger als das hinreichende Kriterium, nach dem an Nullstellen der ersten Ableitung die zweite nicht verschwindet?

 

  • Sich selbst testen, wie gut man den Lernstoff beherrscht

    "[A]ktives Abrufen [fördert] nicht nur mechanisches, schnell vergängliches Wissen, sondern vor allem bedeutungsvolles, nachhaltiges Lernen."
    (Karpicke, zit. n. Wellenreuther 2018, S. 104)

    Jeder hat es schon tausendfach erlaubt: Man hat einen Text wieder und wieder gelesen. Spätestens bei der dritten Wiederholung kam einem alles so vertraut vor, dass man glaubte, man könne das alles bereits im Schlaf. Und als man einer anderen Person den Inhalt der Textes frei erklären wollte ... kam nur inkohärentes Gestammel dabei heraus.

    Viel hilfreicher ist es, das Buch zu schließen und mit eigenen Worten das Gelernte aufzuschreiben oder sich (ebenfalls mit geschlossenem Buch) selbst mit Hilfe von Aufgaben zu testen. Wenn man dies tut, merkt man schnell, woran es noch hapert und kann dann gezielter mit Hilfe des Buchs seine Verständnislücken schließen.
    Für diese kleinen Selbsttests hat das an meiner Schule eingeführte Mathematikbuch Lambacher Schweizer die Rubriken Teste dich, Teste dein Grundwissen, einen Test am Ende des Kapitels sowie einen Check-In zu Beginn des Kapitels. Für alle diese Aufgaben stehen Musterlösungen zur anschießenden Selbstkontrolle bereit.

  • Übungen mischen und über einen längeren Zeitraum verteilen

    Kurzgefasst: Es sollte kontinuierlich und vermischt gelernt werden. Regelmäßig eine kleine Übungsphase zu Lerninhalten, die gerne auch länger zurückliegen dürfen, ist die effektivste Möglichkeit, Kompetenzen langfristig und sicher zu erwerben. "Massiertes Lernen" vor Prüfungen bringt langfristig kaum etwas.
    (Wellenreuther 2018, S. 98ff)

  • Sinnvoll mit "Merkkästen" umgehen

    Merkkästen finden sich in den meisten Mathematikbüchern. Sie sollen in sprachlich und fachlich einwandfreier Weise zuvor eingeführte Fachinhalte "festhalten". Diese Merkkästen nur auswendig zu lernen oder unverstanden in sein Merkheft zu schreiben ist ineffektiv - Unverstandenes nachzuplappern schafft jeder bessere Papagei.
    Im Optimalfall hat man die Inhalte so gut verstanden, dass man in der Lage ist, seinen eigenen Merkkasten, ggf. mit Beispielen und Gegenbeispielen, zu formulieren. Wenn man diese Anforderung (noch) nicht erfüllen kann, so kann man immer noch versuchen, Beispiele und Gegenbeispiele generieren.
    Bei mathematischen Sätzen bietet es sich an, einzusehen, dass beim Weglassen von Voraussetzungen der Satz nicht mehr stimmt. Ein einfaches Beispiel wäre der Satz des Pythagoras: In einem ebenen, rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat der Hypotenusenlänge so groß wie die Summe der Quadrate der Kathetenlängen. Kann man aufs Quadrieren verzichten? Gilt dies auch in Dreiecken, die nicht rechtwinklig sind? Gilt dies auch für Dreiecke, die nicht eben sind (z.B. auf der Oberfläche einer Kugel, und was bedeutet "Dreieck" dort überhaupt)?

  • Sich selbst Übungsaufgaben ausdenken

    Diesen Tipp gebe ich häufig meinen Schülerinnen und Schülern: Einfach mal darüber nachdenken, wie ich dazu gekommen bin, genau diese Aufgaben in der Klassenarbeit zu stellen.
    Einfache Beispiele: 
    • Wie sollte eine Rechenaufgabe aussehen, bei der sich das Ausklammern lohnt?
      In zwei oder mehreren Summanden muss derselbe Faktor vorkommen. Die Summanden sollten ohne Ausklammern schwer zu berechnen sein, nach dem Ausklammern ist die Summe in der Klammer leicht zu berechnen:
      \[\frac{2}{3}\cdot\frac{27}{69}+\frac{2}{3}\cdot\frac{42}{69}=\frac{2}{3}\cdot \left(\frac{27}{69}+\frac{42}{69}\right)=\frac{2}{3}\cdot 1=\frac{2}{3}\]
    • Rationale Zahlen sollen angeordnet und auf dem Zahlenstrahl eingetragen werden. Welche Nenner verwendet man sinnvollerweise in so einer Aufgabe?
      Ein gemeinsamer Nenner muss leicht zu finden sein, außerdem sollte der gemeinsame Nenner so beschaffen sein, dass man auf Kästchenpapier leicht eine gute Einteilung für den Zahlenstrahl wählen kann.
      Beispiel:
      \[\frac{1}{4}, -\frac{3}{2}, \frac{7}{8}, -2, -\frac{1}{8} \]

      Man sieht hier sofort, dass 8 ein geeigneter Nenner ist, auf den alle Brüche erweitert werden können. Man wählt dann z.B. 8 Kästchen als Einheit auf dem Zahlenstrahl und muss nur noch abzählen.
      Ungünstig wäre, wenn etwa die Nenner 5, 7, 11 vorkämen - alles Primzahlen, der kleinste gemeinsame Nenner ist
      \[5\cdot 7\cdot 11=385\]
      .

 

Literatur

  • Dunlosky, Rawson, Marsh, Nathan, Willingham: Improving Students‘ Learning With Effective Learning Techniques. Hier abgerufen am 14.07.2020
  • Helmke, A.: Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Kallmeyer, Seelze-Velber, 2015.
  • Looß, M.: Lerntypen? Ein pädagogisches Konzept auf dem Prüfstand. 2015. Hier abgerufen am 17.02.2018.
  • Prediger, S.: Kognitiv aktivierender Umgang mit Merkkästen. 2014. Hier abgerufen am 14.09.2019.
  • Wellenreuther, M.: Lehren und Lernen - Aber wie? Schneider, Hohengehren, 2018.